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Gedenkfeiern am Volkstrauertag und am Totensonntag in Coesfeld und Lette

Kreisdechant Jörg Hagemann hat bei den Gedenkfeiern im November folgende Ansprache gehalten:

Kriegerehrenmal in Coesfeld Foto: Stadt Coesfeld

Ansprache von Kreisdechant Jörg Hagemann zu den Gedenkfeiern 2023
am Volkstrauertag in Coesfeld und am Totensonntag in Lette

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Vor mehr als 100 Jahren begann der 1. Weltkrieg. 10 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Viele von uns kennen die Bilder von jungen Männern, die begeistert in den Krieg ziehen. Sie gehen davon aus, dass das Ganze ein Spaziergang in ihrer Biographie werden wird. Neben den vielen Millionen Todesopfern gibt es noch viele mehr, für die nach dem Krieg nichts mehr war wie vorher:  entrechtet, traumatisiert und für ihr weiteres Leben gezeichnet.

25 Jahre später, der Beginn des 2. Weltkriegs. Wieder bereiten wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme einen Weg zu Verblendung und den Boden für eine menschenverachtende Tötungsmaschinerie. Dieser Krieg fordert am Ende nach 6 Jahren mehr als 50 Millionen Tote.

Mehr als 50 Millionen Tote im zweiten Weltkrieg, mehr als 6 Millionen ermordete Juden. Millionen und Abermillionen von Männern und Frauen, von Jugendlichen und Kindern, die einer mörderischen Ideologie zu Opfer fallen, die auf grausamste Art verrecken müssen, die mit einer Systematik getötet werden, die mich sprachlos macht, weil es für so etwas keine Worte gibt. Das Trauma der beiden Weltkriege zeigt sich neben der unermesslichen Zahl der Opfer auch in den zu tiefst gezeichneten und verwundeten Menschen, die zwar überlebt haben, die aber nie wieder sein konnten, wie sie vor den Kriegen waren. NIE WIEDER DARF SOLCH EIN KRIEG SEIN so wurde und wird immer wieder geschrien und gefordert!!! NIE WIEDER DARF SOLCH EIN KRIEG SEIN!

Hier und heute 2023, kein Krieg? Oh doch, Kriege in der ganzen Welt. Die Wikipedia Seite: „Liste der andauernden Kriege und bewaffneten Konflikte“ verzeichnet mehr als zwanzig Kriege und Konflikte mit aktuell mehr als  4.500.000 Toten.[1] Wir können sie gar nicht alle im Blick behalten, so viele sind es, so grausam ist das was geschieht. Es entzieht sich menschlichem Vorstellungsvermögen, es ist im wahrsten Sinne des Wortes unerträglich.

In unseren aktuellen Gedanken sind da ganz besonders der völkerrechtswidrige Überfall der Ukraine durch Russland und der jüngste Krieg in Gaza und Israel. Wieder werden Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer, Greise und Säuglinge bestialisch abgeschlachtet.

NIE WIEDER DARF SOLCH EIN KRIEG SEIN!
So oft wurde und wird dieser Ausspruch voll Verzweiflung geschrien! Und wieder sind es wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen und Probleme, die die Tausende und Abertausende von Todesopfern, die die mehr 59 Millionen Binnenflüchtlinge, davon alleine 7 Millionen in der Ukraine, zu entmenschlichten Statistiken werden lassen.[2]

Auf der-letzten Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands in Ulm wurde darauf verwiesen, was passiert wenn Worte diese schreckliche Wirklichkeit verdrehen. Zitat: „In perfider sprachlicher Verdrehung wird aus den Ertrinkenden die Flut gemacht und aus den Schiffbrüchigen die Welle, die angeblich uns überschwemme.“[3]

Der italienische Journalist Michele Sasso erzählt in einer seiner Reportagen die Geschichte eines einzelnen Menschen von heute, er erzählt die Geschichte von Reza, einem 17-jährigen afghanischen Jungen, der zu Fuß seine Heimat verließ. Er flüchtete über den Iran in die Türkei und weiter über die Grenze bis nach Griechenland. Dreimal versuchte er nach Italien zu kommen. Es war sein Traum, noch weiter gen Norden zu ziehen, doch er wurde dreimal abgelehnt. Dabei hätte er jedes Recht gehabt, als Flüchtling anerkannt zu werden, denn seine Familie ist von der islamischen Talibanbewegung Afghanistans ausgelöscht worden. Reza ging schließlich zu Fuß von Griechenland nach Italien; Reza lebt jetzt als anerkannter politischer Flüchtling in Parma. Er hat es geschafft, dank eines Einspruchs der Europäischen Union aufgrund seiner speziellen Situation alle Barrieren zu überwinden.

So wie er hätten viele das Recht auf internationalen Schutz, auf ein Visum, aber ihnen wird die Tür vor der Nase zugeschmissen, erklärt Sasso: „Als ich bei ihm zuhause war, hat er mir seine Narben gezeigt. Die Spuren der Folter, die ihm in Afghanistan zugefügt wurde. Stundenlang hat er mir alles im Detail erklärt, wie er für etwas Geld in den Iran kam, die Demütigung, die Misshandlungen, die er über sich ergehen ließ, um nach Italien zu gelangen, und dann sein Traum von Europa. Mit 17 flüchtet er, und mit 21 Jahren kommt er in Italien an. Vier Jahre lang opfert er alles, um seinen Traum zu verwirklichen; er macht vor keiner Grenze halt. Als ihm nur noch eine Meerenge fehlte - er kam praktisch von Asien in den Hafen von Patras, da fehlte nur noch der letzte Schritt, um nach Italien zu kommen: Er war schon in Europa, aber in einem Europa, dass seine Rechte nicht anerkannte.“  Warum erzähle ich diese Geschichte, werden Sie fragen. An Reza wird deutlich, dass das, was wir in Europa, in der Welt, nie wieder gewollt haben, wieder Realität ist. Menschen werden in ihrer Heimat wieder durch Kriege ermordet, Familien werden auseinandergerissen. Menschen fliehen und finden keine Heimat, Menschen fliehen und niemand will sie! Und dies geschieht in Afrika, in Afghanistan, in Israel und Gaza, in der Ukraine und in so vielen anderen Ländern dieser Welt.

Im Angesicht der vielen Opfer von Gewalt und Terror aus den vergangenen 100 Jahren müssen wir uns hier heute in Coesfeld fragen lassen, wie wir angesichts der Opfer von Gewalt und Terror heute leben. Im Angesicht und Gedächtnis der so unendlich vielen Opfer – damals und heute – müssen wir uns ganz konkret fragen lassen, wie wir mit den Geflüchteten unserer Tage umgehen. Wir müssen uns fragen lassen, was mit den Geflüchteten geschieht, die unser Land nicht aufnehmen kann, weil Vorbehalte gegen sie vorhanden sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, zum Schluss meiner Worte möchte ich Papst Johannes Paul II zitieren: „Man muss den Mut haben, in eine Richtung zu gehen, in die bisher noch niemand gegangen ist. Ohne diesen Mut können Völker und Systeme in diesen Zeiten weder einander näher kommen, noch kann man den Frieden herstellen.“

Ich rufe uns auf, in solche Richtungen zu gehen. Ich glaube zutiefst, dass es gerade die Opfer von Gewalt und Terror vergangener Tage sind, die uns heute schreien lassen: Nie wieder Krieg, nie wieder Menschen, die ihre Heimat und ihre Lebensmöglichkeit verlieren! Nie wieder Tod so vieler unschuldiger Menschen, gleich welchen Alters, welcher Herkunft, welcher Religion. In bin davon überzeugt, dass der Ausspruch „NIE WIEDER“ angesichts jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die wieder Angst in Deutschland haben, hochaktuell ist. Ich glaube zutiefst, dass der Ausspruch: „NIE WIEDER“ keine Plattitüde, keine Phrase ist! Ich bin zutiefst davon überzeugt, das „NIE WIEDER“ JETZT gelebt und geschrien werden muss. – NIE WIEDER – IST JETZT!